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Thomas Fricke

Planlose FDP Es ist Zeit für eine sozialliberale Wende

Thomas Fricke
Eine Kolumne von Thomas Fricke
Das Drama von Thüringen zeigt, wie orientierungslos die FDP geworden ist. Die Partei bräuchte eine große Wende - wie einst bei der Abkehr vom Sozialliberalismus. Nur diesmal zurück.
Christian Lindner

Christian Lindner

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Carsten Koal/ DPA

Es sind ja schon ein, zwei Sätze darüber geschrieben worden, wie es sein konnte, dass ein FDP-Politiker sich von der AfD zum Ministerpräsidenten hat wählen lassen. Und was das über die FDP aussagt. Ob die jetzt auch irgendwie AfD ist. Oder alle anderen nur hysterisch.

Dabei könnte das Problem der Liberalen tatsächlich sein, dass die Partei unter dem hippen Christian Lindner seit Jahren doch arg hin und her irrlichtert und dass vor lauter Anbiederei und Freiheitsfloskeln die Orientierung verloren gegangen ist - und einer sich dann halt auch mal von der AfD wählen lässt.

Was der FDP aus der Belanglosigkeit helfen würde, könnte heute umso mehr ein großer Bruch sein: Ein neues Wendepapier, wie einst das von 1982, mit dem der damalige Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff samt Anhang krachend die Abkehr vom Sozialliberalismus der Vorjahre erwirkte - hin zu jenem marktheimelnden Wirtschaftsliberalismus, der uns in der Folge über drei Jahrzehnte begleitet hat. Nur halt anno 2020 wieder zurück. In moderner Variante. Ein Liberalismus, der nach all den Desastern seines lobby-marktliberalen Vorgängers zur heutigen Zeit passt - und Potenzial hätte.

Es hat etwas vom Berufsverständnis eines Staubsaugerverkäufers, wenn der Chef einer Fünf-bis-sieben-Prozent-Partei alle zwei Wochen verlautbart, dass im Grunde - wahlweise - so gut wie alle Facharbeiter, Wutbürger, enttäuschten CDU-Wähler, enttäuschten SPD-Wähler und überhaupt die gesamte Mitte der Gesellschaft eigentlich FDP wählen müssten, die das aber irgendwie nicht tun. Was daran liegen könnte, dass der eine oder andere gar keinen Staubsauger will, sondern eine Partei, die hilfreiche Ideen und ausgereifte Grundvorstellungen hat.

Das klingt beim guten Lindner trotz seines Selbstvermarktungstalents einfach anders. Irgendwas mit liberal - aber Grenzen kontrollieren. Irgendwas mit freier Meinung - aber über Kinder schimpfen, die freitags ihre Meinung kundtun. Gegen die sozialen Wohltaten der GroKo sein – aber am Werkstor zum 1. Mai den Freund der Arbeiter geben. Und sich vor allem täglich als armes Opfer rot-grüner Gutmenschen geben, was bei der Ü-50-Schenkelklopfer-Wutklientel auf Facebook zwar prima ankommt, nur halt auch kein Zukunftskonzept ist.

Nach menschlichem Ermessen müsste die FDP in der aktuellen Existenzkrise von CDU und SPD weit über zehn Prozent liegen. Tut sie aber nicht. Vielleicht, weil die Orientierung fehlt – und Törö-Rot-Grün-Gejammer dafür kein Ersatz ist.

Jetzt könnte natürlich sein, dass die Partei doch wieder viel mehr zur marktliberalen Kampfeinheit werden müsste, um Profil zu bekommen. In neuer Eintracht mit Friedrich Merz vielleicht. Und wie einst unter Helmut Kohl. Wie irre der Gedanke anno 2020 ist, wird nur schnell klar, wenn man noch mal nachschaut, was da damals in besagtem epochalem Wendepapier 1982 niedergelegt war.

Auf der Wunschliste von Lambsdorff und Kollegen - unter anderem dem späteren Bundesbankchef Hans Tietmeyer - stand dereinst im Kern, dass alles irgendwie marktwirtschaftlicher geregelt werden und der Staat sich zurückziehen sollte. Und dass daher zum Beispiel:

  • Arbeitslose weniger Stütze bekommen;

  • es für Beschäftigte bei Krankheit erst nach Karenz Lohnfortzahlung gibt;

  • das Mutterschaftsurlaubsgeld (so hieß das damals noch) abgeschafft gehört;

  • das Bafög für Schüler zu streichen ist;

  • Vermögende dafür weniger Steuer zahlen;

  • die Mehrwertsteuer anzuheben sei;

  • die Deutschen per se mehr Selbstvorsorge tragen und sich an den Kosten für Medikamente beteiligen müssten;

  • das Rentenalter anzuheben sei;

  • die Sozialhilfe einzufrieren sei;

  • der Jugendarbeitsschutz aufgelockert werden müsste

  • und öffentliche Leistungen ganz grundsätzlich eher zu privatisieren sind.

Da war ein recht klarer Geist erkennbar. Das müssen Sie zugeben. So klar, dass die Autoren nicht einmal den vorweggenommenen Vorwurf entkräften wollten, das alles sei "unsozial". Anders sei halt die Erneuerung des wirtschaftlichen Fundaments nicht zu gewährleisten. Damit "schließlich alle Bürger am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt teilnehmen". Magic. Was damals auch Ronald Reagan und Margaret Thatcher so versprachen - Stichwort: Trickle-down, wenn's den Reichen besser geht, profitieren die Armen bald auch - in Wirklichkeit aber nie passiert ist.

Was 1982 noch durchging und der FDP lange Jahre des Mitregierens erlaubte, wirkt anno 2020 eher wie ein Abrisskonzept für die FDP selbst - nach mehr als 30 Jahren Erfahrung mit allerlei mehr oder weniger marktradikalen Experimenten und Desastern: von der dramatisch gestiegenen Ungleichheit von Einkommen und Vermögen über die in Wahrheit ausgebliebene neue Wirtschaftsdynamik bis hin zum Zustand privatisierter Einrichtungen, kaputtgesparter Schulen, Brücken oder Bahnnetze.

Der altliberale Ruf nach weniger Staat klingt 2020 gagaesk, wenn in Umfragen fast 80 Prozent der Deutschen sagen, dass die Privatisierungen der vergangenen Jahrzehnte zu weit gegangen sind. Oder dass jenes Auseinanderdriften von Reich und Arm - wie es die Wendepapier-Schreiber einst noch als wirtschaftlich dynamisierend verklärten - zur Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt geworden ist. Und 74 Prozent das Leitmotiv von der Eigenvorsorge "schlecht" finden. Noch so ein implodierter FDP-Fetisch.

Da hilft auch das Gejammer nicht, wonach die Deutschen immer zu viel nach dem Staat rufen, also für den Wirtschaftsliberalismus nicht zu gebrauchen sind. Die Krise ist ja keine deutsche. Nach dem jüngsten Trust Barometer der Unternehmensberatung Edelman sagen im Schnitt mehr als die Hälfte der Menschen in insgesamt 28 Ländern, dass der Kapitalismus in seiner heutigen Form mehr schadet als nutzt. Ein Weltphänomen.

Unter solchen Umständen ist es abwegig zu glauben, dass sich mit alten marktliberalen Sprüchen viele Wähler begeistern ließen. Das scheint selbst dem Unions-Lieblingsliberalen Friedrich Merz nicht ganz entgangen zu sein.

Vielleicht liegt hier die Chance der FDP - in einer Wende zurück in die Zukunft. Es gibt ja, liebe Kinder, noch andere Formen des Liberalismus als den, den 1982 Leute wie der ordo-liberal gefestigte Wirtschaftsminister im Reagan-Thatcher-Zeitgeist verkünden ließ - und den wir gar nicht mehr anders kennen.

Anno 2020 wäre ein Liberalismus womöglich erfolgreicher, der wie einst mehr auf Freiheiten in allen Lebenslagen setzt - und darauf, wirtschaftliche Dynamik ohne Verzichtsdogmen und Angstmacherei anzustreben, statt Freiheit so offenbar einseitig auf die finanziellen Freiheiten der ohnehin schon eher Begüterten zu reduzieren. Weil sich nur wirklich frei fühlt, wer ohne existenzielle Angst lebt. Und weil eine Gesellschaft auf Dauer nur frei bleibt, wenn alle das Gefühl haben, dabei zu sein. Das wäre mal eine Aufgabe.

Was für die einen seit den Zeiten des Wendepapiers mehr Freiheit bedeutete, bedeutete für (viel mehr) andere, dass ihnen am Ende des Monats weniger Freiheit blieb, sich noch etwas zu leisten. Was Lambsdorff und Anhang damals predigten, hat eben nicht alle wohlhabender gemacht, sondern viel Sicherheit zerstört. Und das ist etlichen Studien zufolge heute auch ein Grund dafür, dass es Populisten einfach haben. Nicht nur in Thüringen.

Der Berliner FDP-Politiker Hans Bellstedt hat vor ein paar Wochen angeregt, einen "inklusiven Liberalismus" zu entwickeln – einen, der alle einbezieht. Könnte sein, dass das kein schlechter Gedanke ist. Ein neues Leitbild. Für die FDP. Und fürs Land.

Mit einem klaren Leitbild würden lokalen Parteigrößen womöglich auch nicht mehr vor lauter Irrlichterei so schnell politische Unfälle passieren.